Gesundheitskompetenz nimmt stark ab
Eine neue bundesweite Studie zeigt eine besorgniserregende Entwicklung in Deutschland: Nur etwa jeder vierte Erwachsene verfügt über ausgeprägte Gesundheitskompetenz. Die von der Technischen Universität München (TUM) in Zusammenarbeit mit dem WHO-Kooperationszentrum für Gesundheitskompetenz durchgeführte und im Wort & Bild Verlag veröffentlichte Studie zeigt, dass 75.8 % der Befragten Schwierigkeiten haben, medizinische Informationen sinnvoll zu finden, zu bewerten und anzuwenden. Dieser Rückgang stellt einen erheblichen Rückschlag im Vergleich zu früheren Jahren dar. Die Gesundheitskompetenz sank von 54.3 % im Jahr 2014 auf 64.2 % im Jahr 2020 und erreicht nun fast 76 % der Erwachsenen, die nicht in der Lage sind, Gesundheitsinformationen angemessen zu verarbeiten.
Diese Ergebnisse spiegeln einen starken Rückgang der Fähigkeit der Bevölkerung wider, sich mit wesentlichen Gesundheitsthemen auseinanderzusetzen – vom Verständnis von Behandlungsmöglichkeiten über die Anwendung präventiver Maßnahmen bis hin zur Erkennung psychischer Gesundheitsbedürfnisse. Die Ergebnisse basieren auf einer repräsentativen Online-Umfrage, die im Sommer 2024 unter 2,000 internetnutzenden Erwachsenen in Deutschland durchgeführt wurde.
Jugendliche und westliche Staaten am stärksten betroffen
Interessanterweise ist der Rückgang der Gesundheitskompetenz besonders bei jüngeren Menschen und in den alten Bundesländern ausgeprägt. Befragte aus Ostdeutschland schneiden dagegen deutlich besser ab. Entgegen früherer Studien scheinen Faktoren wie Bildungsniveau, Einkommen, Geschlecht oder Migrationshintergrund kaum noch Einfluss auf die Fähigkeit einer Person zu haben, gesundheitsbezogene Informationen zu verstehen.
Forscher und Behörden interpretieren die Ergebnisse gleichermaßen als Warnsignal. Professor Orkan Okan, Direktor des WHO-Kooperationszentrums, betonte, wie dringend notwendig es sei, das Thema bereits in der frühkindlichen Bildung anzugehen. „Gesundheitswissen muss bereits im Kindergarten beginnen und sich durch die gesamte Schulzeit ziehen“, sagte er und betonte, dass diese Bemühungen mit der Stärkung der Medienkompetenz einhergehen müssten.
Eine Kostenbelastung für die öffentliche Gesundheit
Die Folgen mangelnden Gesundheitswissens gehen über individuelle Probleme hinaus. Experten schätzen, dass mangelnde Gesundheitskompetenz dem deutschen Gesundheitssystem jährlich bis zu 24 Milliarden Euro Mehrkosten beschert. Diese Kosten entstehen durch vermeidbare Krankenhausaufenthalte, übermäßige Inanspruchnahme von Notfalldiensten und unzureichende Therapietreue. Menschen mit geringerer Gesundheitskompetenz sind zudem tendenziell weniger körperlich aktiv, berichten von einer geringeren Lebensqualität und leiden häufiger an Übergewicht und psychischen Problemen.
Kai Kolpatzik, Wissenschaftlicher Leiter des Wort & Bild Verlags, bezeichnete die Situation als systemisches Problem, insbesondere in einer Zeit, die von digitaler Desinformation geprägt sei. Er warnte, dass der Anstieg von Fake News und manipulativen Chatbots zu Gesundheitsthemen es für Bürger zunehmend schwieriger mache, zuverlässige und evidenzbasierte Informationen zu erkennen. Kolpatzik forderte nationale Strategien zur Bekämpfung von Desinformation und die Bereitstellung von Werkzeugen für die kritische Bewertung von Online-Informationen.
Mangelnde Ressourcen für die psychische Gesundheit
Die Umfrageteilnehmer identifizierten besondere Herausforderungen beim Zugang zu Informationen zur psychischen Gesundheit. Viele Befragte empfanden es als besonders schwierig, Materialien zum Thema psychisches Wohlbefinden zu finden und zu verstehen. Trotz der wachsenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für psychische Gesundheit besteht weiterhin eine erhebliche Lücke in der Gesundheitskompetenz in diesem Bereich. Experten vermuten, dass mangelndes Bewusstsein und Stigmatisierung dazu beitragen könnten, und betonen, dass öffentliche Kampagnen eine größere Rolle bei der Entstigmatisierung und Aufklärung der Menschen über psychische Gesundheitsversorgung spielen müssen.
Klare Kommunikation als neuer Standard
Im Mittelpunkt der Ergebnisse steht der klare Aufruf zu einer verbesserten Kommunikation im gesamten Gesundheitssystem. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze, forderte, dass eine klare Sprache zur Norm werde – von traditionellen Arztpraxen bis hin zu digitalen Gesundheitsplattformen. „Die Menschen fühlen sich im System verloren“, sagte er und verwies auf die emotionale und psychische Belastung, die eine schlechte Kommunikation für die Patienten mit sich bringe.
Schwartze forderte außerdem eine stärkere Berücksichtigung der Gesundheitserziehung in politischen Diskussionen. Gesundheitskompetenz sei kein Luxus, sondern eine Grundvoraussetzung für ein inklusives und effektives Gesundheitssystem. Er betonte, dass das Recht, die eigene Gesundheit zu verstehen und zu steuern, universell sein sollte.
Nationale Strategie: Von der Schule zum Arbeitsplatz
Um der wachsenden Krise zu begegnen, hat eine Koalition von über 30 Gesundheitsorganisationen einen Zehn-Punkte-Plan vorgestellt. Dieser sieht die Aufnahme von Gesundheitserziehung in den Lehrplan für die frühe Kindheit, die Vermittlung digitaler Gesundheitskompetenzen an alle Bürger und die Einschränkung der Vermarktung ungesunder, an Kinder gerichteter Lebensmittel vor. Ein weiterer wichtiger Vorschlag betrifft die Schulung von medizinischem Fachpersonal in modernen Kommunikationstechniken und den Aufbau von „Navigationsunterstützungssystemen“ in Krankenhäusern und Kliniken, um Patienten effektiver zu beraten.
Die Strategie schlägt außerdem vor, die Gesundheitskompetenz in medizinischen Einrichtungen zu stärken, die Aufklärung über psychische Gesundheit durch nationale Kampagnen zu fördern und Gesundheitskompetenz in alle Politikbereiche zu integrieren. Die Einbeziehung von Arbeitsplätzen in diese Initiativen unterstreicht die weitreichende Relevanz des Themas im Alltag, die über traditionelle Gesundheitseinrichtungen hinausgeht.
Politisches Engagement gefordert
Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach bekräftigte die Notwendigkeit struktureller Reformen und politischer Koordination. Sie betonte, dass die bloße Verteilung von Broschüren nicht ausreiche; die Bemühungen müssten zu spürbaren und nachhaltigen Verbesserungen in der Vermittlung und Nutzung von Gesundheitsinformationen führen. Gerlach kündigte an, dass noch in diesem Jahr ein neuer Präventionsplan für Bayern eingeführt werde, der sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit berücksichtigt.
Viele Akteure im Gesundheitswesen sprachen sich für eine stärkere Zusammenarbeit auf Bundes- und Landesebene aus. Die Akteure sind sich einig, dass die Stärkung der Gesundheitskompetenz zu einer nationalen Priorität werden muss, mit konkreten Maßnahmen, die den unterschiedlichen Lebensrealitäten der deutschen Bürgerinnen und Bürger Rechnung tragen.
Die dringende Notwendigkeit einer Stärkung der Gesundheit
Da das deutsche Gesundheitssystem zunehmend komplexer und digitaler wird, ist es wichtiger denn je, den Menschen das nötige Wissen und die nötige Sicherheit für den Umgang mit ihrer Gesundheit zu vermitteln. Ohne eine koordinierte nationale Reaktion wird sich die Kluft zwischen dem Verständnis der Bevölkerung und den verfügbaren Informationen weiter vergrößern und sowohl die Menschen als auch das System selbst gefährden.