Friedrich Merz ist nach einem dramatischen zweistufigen Wahlverfahren im Bundestag, das ein historisches Novum in der deutschen Nachkriegspolitik darstellt, offiziell der zehnte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Der 10-jährige Christdemokrat erhielt im zweiten Wahlgang 69 Stimmen – nur neun mehr als die erforderlichen 325 –, nachdem er am selben Tag zunächst um sechs Stimmen unterlegen war. Sein anfängliches Scheitern war beispiellos: Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hatte ein designierter Kanzler nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen eine Erstwahl im Parlament verloren.
Da die Abstimmung geheim war, blieben die Gründe für die anfängliche Niederlage weitgehend spekulativ. Obwohl die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD zusammen 328 Sitze innehatte, verweigerten 18 Abgeordnete bei der Morgenabstimmung ihre Unterstützung. Dies führte zu Verwirrung und Verhandlungen hinter den Kulissen in Berlin, die schließlich zu einer Einigung auf eine Stichwahl am selben Tag führten. Um diese zu ermöglichen, änderte der Bundestag seine Verfahrensregeln mit Zweidrittelmehrheit.
Eine Koalition unter Beobachtung
Der Vorfall offenbarte erste Anzeichen einer Zerbrechlichkeit innerhalb der neu gebildeten Koalition. Obwohl die Führung von CDU und SPD ihr Bekenntnis zum Regierungsvertrag bekräftigte, löste der Übertritt mehrerer Abgeordneter Bedenken hinsichtlich der Disziplin und interner Meinungsverschiedenheiten aus. SPD-Politiker, darunter Parteichef Lars Klingbeil, betonten, der Rückschlag sei kein Ausdruck mangelnder Einigkeit. Politische Kommentatoren wiesen jedoch auf eine mögliche Ernüchterung unter jüngeren SPD-Mitgliedern hin, die Merz' Führung offen in Frage gestellt hatten.
Die nach dem Scheitern des vorherigen Ampelbündnisses im November hastig gebildete Koalition steht vor der Herausforderung, mit einer knappen Mehrheit zu regieren. Die SPD, geschwächt durch ihr schwaches Wahlergebnis Anfang des Jahres, ist dieser Vereinbarung mit einer schwächeren Position beigetreten. Merz' Sieg stellt daher nicht nur einen persönlichen Triumph dar, sondern auch einen Test, ob diese knappe Mehrheit eine stabile Regierungsführung ermöglichen kann.
Öffentliche und internationale Erwartungen
Im Inland sind die Erwartungen hoch. Die deutsche Wirtschaft zeigt zwar nach zwei Jahren Rezession Wachstumssignale, bleibt aber fragil. Ökonomen warnen vor möglichen Rückschlägen durch globale Handelsspannungen, darunter US-Zölle, die deutsche Exporte beeinträchtigen könnten. Die Konsumausgaben sind niedrig, und der Dienstleistungssektor ist zuletzt geschrumpft. Merz hat versprochen, die Wirtschaft wiederzubeleben, das internationale Vertrauen zu stärken und Deutschlands Rolle als führende Stimme in Europa wiederherzustellen.
Die Europäische Union und die NATO-Verbündeten erwarten, insbesondere angesichts der außenpolitischen Kurswechsel der USA, von Deutschland Führungsstärke. Merz wird voraussichtlich für eine stärkere europäische Souveränität und Verteidigungsfähigkeit eintreten. Seine ersten Auslandsreisen als Kanzler werden ihn nach Frankreich und Polen führen. In Warschau dürften die Diskussionen angespannt sein, insbesondere über Merz' Unterstützung für strengere deutsche Grenzkontrollen – eine Initiative des künftigen Innenministers Alexander Dobrindt.
Umstrittenes Kabinett und politische Opposition
Merz' neues Kabinett besteht aus 17 Ministern – zehn Männern und sieben Frauen – aus den Reihen von CDU, CSU und SPD. Lars Klingbeil von der SPD wird Vizekanzler und Finanzminister. Die Zusammenarbeit zwischen Merz und Klingbeil gilt als entscheidender Faktor für den Erfolg der Koalition. Beobachter bemerken, dass das Paar während der Koalitionsverhandlungen effizient zusammengearbeitet hat, was Hoffnungen auf eine funktionierende Führung weckt.
Die Oppositionsparteien haben jedoch deutlich gemacht, dass sie Merz' Politik nicht unterstützen werden. Grüne und Linkspartei befürworteten das beschleunigte Abstimmungsverfahren im Interesse der demokratischen Kontinuität, bekräftigten aber ihre entschiedene Haltung gegen das Programm der schwarz-roten Koalition. Irene Mihalic von den Grünen und Christian Görke von der Linken warnten, der Koalitionsvertrag gehe auf zentrale Herausforderungen des Landes nicht ein.
Die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD), die bei der Wahl im Februar 20.8 Prozentpunkte erreichte, nutzte die anfängliche Niederlage als Argument, der Koalition fehle es an Legitimität. Die Parteiführung erklärte die neue Regierung für grundsätzlich instabil und bot der CDU/CSU Unterstützung an – ein Schritt, der von den etablierten Parteien abgelehnt und durch die Einstufung der AfD durch den deutschen Verfassungsschutz als bestätigte rechtsextreme Gruppe erschwert wurde.
Ein vorsichtiger Start in eine neue Ära
Die Atmosphäre rund um Merz' Vereidigung im Schloss Bellevue war feierlich und zugleich zurückhaltend. Während der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz gratulierte, schloss Merz' Team die Bildung der neuen Regierung zügig ab. Noch am selben Abend wurden Minister ernannt und die erste Kabinettssitzung abgehalten.
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner und die Parteispitzen betonten angesichts geopolitischer Spannungen und innenpolitischen Drucks die Notwendigkeit schnellen Handelns. CDU-Fraktionschef Jens Spahn unterstrich die Dringlichkeit der Regierungsbildung und erklärte: „Die ganze Welt schaut zu.“
Trotz des holprigen Starts hält Merz nun die Zügel der größten Volkswirtschaft Europas in der Hand. Die kommenden Wochen werden entscheidend dafür sein, ob seine Regierung die fragilen Anfänge überwinden und ihre Versprechen einer wirtschaftlichen Erholung, einer stärkeren europäischen Führung und einer stabilen Koalition, die den bevorstehenden Herausforderungen gewachsen ist, einlösen kann.